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Das Mysterium der vergessenen Muse: Wie Picassos Bronzestatue «La Poésie» verschwindet und unerkannt zurückkehrt

Autorenbild: Klaus LintemeierKlaus Lintemeier

Aktualisiert: 25. Jan.

Stell dir vor: Eine wertvolle Picasso-Skulptur verschwindet über Nacht, taucht dann als «unbekannte Frauenbüste» in einem Schlossgraben auf – und niemand erkennt sie. Genau das passierte in Paris, und die Geschichte dahinter ist noch erstaunlicher.

 

Alles beginnt mit einer Liebesgeschichte. Pablo Picasso, der in seinem Atelier in der Rue des Grands-Augustin Nummer 7 lebt – dort, wo er auch sein berühmtes «Guernica» (1937) schuf – hat eine faszinierende Muse: Henriette Theodora Markovitch. Unter dem Namen Dora Maar (1907-1997) ist sie von 1935 bis 1943 nicht nur seine Gefährtin, sondern auch eine bemerkenswerte Künstlerin selbst – Fotografin und Malerin.

 

1941, mitten im besetzten Paris, verewigt Picasso ihre Züge in Bronze. Die Büste, die später den Namen «La Poésie» erhält, soll ein Denkmal für seinen Freund, den Dichter Guillaume Apollinaire, werden. Heute steht sie – oder besser gesagt, steht sie wieder – neben der ältesten Kirche von Paris, der Abteikirche Saint-Germain-des-Prés auf dem Square Laurent-Prache.

Pablo Picasso «La Poésie» auf dem Square Laurent-Prache (Foto: Klaus Lintemeier)
Pablo Picasso «La Poésie» auf dem Square Laurent-Prache (Foto: Klaus Lintemeier)

Die erste Einweihung am 5. Juni 1959 hätte dramatischer nicht sein können: Während André Salmon und Jean Cocteau feierlich der Zeremonie beiwohnen, stürmt plötzlich André Breton mit einer Gruppe aufgebrachter Surrealisten die Veranstaltung. Der Grund? Eine jahrelange künstlerische und politische Fehde mit Cocteau. Picasso selbst und der neue Kulturminister André Malraux ziehen es vor, diesem Chaos fernzubleiben.

 

Doch das wahre Drama beginnt erst 40 Jahre später, in der Nacht vom 30. auf den 31. März 1999. Die Bronzestatue verschwindet spurlos. Wochen später macht allerdings jemand einen merkwürdigen Fund: In den Gräben des kleinen Waldes La Garenne, oberhalb des Schlosses Grouchy, fünfzig Kilometer von Paris entfernt, liegt eine mysteriöse Frauenbüste.

 

Was dann geschieht, grenzt an Absurdität: Das Rathaus meldet den Fund vorschriftsmäßig der Drac (der regionalen Direktion für kulturelle Angelegenheiten) – aber niemand kommt auf die Idee, dass es sich um den gestohlenen Picasso handeln könnte. Stattdessen wird die Büste bis Februar 2001 wie ein gewöhnliches Dekorationsstück auf der großen Treppe am Haupteingang des Schlosses ausgestellt. Täglich laufen Menschen daran vorbei, ohne zu ahnen, welchen Schatz sie vor sich haben.

 

Die Auflösung kommt letztlich durch den Künstler Ange Tomaselli. Mit geschultem Blick erkennt er in der namenlosen Büste die unverkennbare Handschrift des katalanischen Meisters. Am 17. Dezember 2001 kehrt «La Poésie» endlich nach Hause zurück, auf den Square Laurent-Prache.

 

Diese Geschichte wirft faszinierende Fragen auf: Wie konnte ein Werk von Picasso so lange unerkannt bleiben? Wer waren die Diebe, und warum entsorgten sie die wertvolle Statue einfach im Wald? Und vielleicht am erstaunlichsten: Wie viele Meisterwerke stehen noch heute irgendwo unerkannt und warten darauf, wiederentdeckt zu werden?



Literatur


Brassaï (2023): Gespräche mit Picasso. – Kampa Verlag.

 

Clemenz-Kirsch, Gertraude (2023): Die Picasso-Bande der Pariser Avantgarde: Guillaume Apollinaire, Max Jacob und Jean Cocteau. – Morio Verlag.

 

Olivier, Fernande (1989): Picasso und seine Freunde: Erinnerungen aus den Jahren 1905–1913. – Diogenes Verlag.

 

Roe, Sue (2014): In Montmartre: Picasso, Matisse and Modernism in Paris, 1900-1910. – Fig Tree.

 

Rowley, Neville / Birmant, Julie / Oubrerie, Clément (2014): Pablo, le Paris. – Dargoud.

 

Schlesser, Gilles (2022): Picasso à Paris. – Parigramme.

 
 
 

4 Comments

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Guest
Jan 08
Rated 5 out of 5 stars.

Wäre dies ein Krimi, man fände ihn unglaubwürdig. Da sieht man es mal wieder: Nichts ist so spannend wie die Wirklichkeit! Danke, dass Ihr diese tolle Geschichte festgehalten und öffentlich gemacht habt.

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Klaus Lintemeier
Jan 14
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Vielen Dank für den freundlichen Kommentar. In der Serie „Die Abenteuer der modernen Kunst“ auf ARTE steht die Skulptur noch im Atelier von Pablo Picasso.



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Klaus
Dec 30, 2024

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